Wo kann ich mich dieses Jahr wieder auspowern oder besser gesagt, was lässt mein linker Knöchel nach einem Bänderriss Ende März wieder zu? Diese Frage stellte ich mir Ende Mai 2016. Kurz überlegt fiel mir doch glatt der kahle, hammerharte Berg in Südfrankreich ein, der mir letztes Jahr schon so gefiel und über den es ein spezielles, Individual-Event gibt, bei dem man sich den Hintern wund strampeln kann :-) Ich meine natürlich den Mont Ventoux.
Doch erst mal ein wenig Erd- und Sportkunde: Wer die Tour de France kennt, kennt auch den Mont Ventoux! Der 1912 Meter hohe Kalkhaufen steht einsam und alleine mitten in der Provence. Windfangende Nachbarberge? Fehlanzeige! Aufgrund seiner Kalkfelder am Gipfel, die wie ganzjährig liegender Schnee aussehenden, nennt man den von allen Seiten weit sichtbaren Giganten auch „weißer Riese“, wie das Waschpulver. Dank Lavendel rund herum, riecht der auch nach Waschmittel.
Das Ding ist nicht nur imposant und schön anzuschauen, sondern darüber hinaus auch noch ein Mythos des Radsports. Neben L‘Alpe d’Huez (Skiort) und Col du Galibier (Pass) in den Alpen sowie dem Col du Tourmalet (Pass) in den Pyrenäen gilt er als einer der vier Monumente der Tour de France. Mit 1600 zu bewältigenden Höhenmetern von fast jeder Seite sind die stets im Wind stehenden Serpentinenstraßen da rauf auch eine der schwersten der Rundfahrt und somit quasi ein prädestiniertes Ziel für Radsportbekloppte.
Der Club:
Insgesamt drei asphaltierte Auffahrten führen von drei Seiten zum hoch aufragenden Gipfel des Bergers, der durch einen mehr als häßlichen Klotz von Funkturm wie ein Ausrufezeichen von überall aus bereits weithin erkennbar ist.
Normale Radfahrer nehmen sich 2-3 Tage Zeit, wenn sie alle Rampen erklimmen wollen. Wir vom Erkelenzer Radsportclub sind aber nicht normal :-) Was gibt es also härteres?
Vermutlich irgendein mit reichlich Rotwein abgefüllter Franzose kam auf die grandiose Idee, alle drei Auffahrten an einem Tag zu bewältigen. Nüchtern kann einem sowas jedenfalls nicht einfallen. 1988 wurde ein Verein aus der Taufe gehoben mit dem vielsagenden Namen Club des Cinglés du Mont Ventoux, was soviel wie der „Club der Mont-Ventoux-Verrückten“ heißt (www.clubcinglesventoux.org/de/). Die Aufnahmevoraussetzungen sind denkbar einfach: Versuch anmelden, Geld zahlen und alle drei Asphaltrampen raufstrampeln. Schlappe 4500 Höhenmeter bei 150 km mit reichlich Gegenwind im Berg……..ein Kinderspiel;)
Für einen wahren Erkelenzer reicht auch das nicht. Geht’s noch härter?!?
OK, nachdem man sich von diesem billigen Einschüchterungsversuch des Ventoux erholt hat und etwas genauer die Landkarte betrachtet, erkennt man noch, dass eifrige Förster zudem einen „Waldweg“ in den Südhang geschlagen haben. Dieser soll angeblich über eine gut geschotterte Piste hinauf zur Spitze führen. Dass der „Weg“ teilweise eher einem ausgewaschenen, trockenen Flussbett ähnelte, sollte ich bald noch feststellen. Aber dazu gleich. Mit 6050 Höhenmetern und 190 km hörte sich diese Vierfach-Auffahrt auf den Mont Ventoux schon eher nach meinem Geschmack an. Ein Überlebender dieser Tortur darf sich dann sogar nicht nur „Verrückter“ nennen, sondern steigt sogar zum „Le Galérien du Mont Ventoux“ auf, einem Sklaven des Berges.
Gebongt!!!! Das nehm ich!!!
Ich muss dazu leider anmerken, dass es noch eine härtere Prüfung gibt, den Bicingles oder „Doppelverrückten bzw. Wahnsinnigen“ mit 6 Auffahrten. Doch die satten 8800 Höhenmeter konnte ich mir aufgrund der noch jungen Genesung meiner Knöchelverletzung und dem daraus resultierenden Trainingsrückstand leider noch nicht antun :-( :-( :-(
Das Rennen:
Am 28. Mai 2016 begab ich mich mit zwei Fahrrädern, einem Rennrad und einem Crossrad, im Gepäck auf die Reise gen Südfrankreich. Nach einem „fettarmen“ KFC-Sportlerabendessen und „gutem“ Schlaf in einem Autobahnhotel mit quietschender Flurtür, steuerte ich am Montag den 30. Mai 2016 den Startort Bédoin südlich des Mont Ventoux an. Mit offiziell georderte Stempelkarte in der Tasche fiel um 6:00 Uhr der imaginäre Startschuss und ich startete zur ersten Auffahrt über die Südrampe. 21 Kilometer Bergauf am Stück mit Steigungen zwischen 7-11% warteten auf mich. Um den ambitionierten Pedalisten mal direkt etwas mürbe zu machen, hatten sich die Ratsherren von Bédoin doch glatt den perfiden Plan ausgedacht, bei jedem Kilometer einen Meilenstein mit Entfernung bis zum Gipfel und die folgenden Steigungsprozente aufzustellen. Soll vermutlich zum Aufgeben bewegen, um so den Umsatz der zahlreichen Lokale am Straßenrand im unteren Teil der Straße anzukurbeln;) Bei den vielen Rädern, die ich im Laufe des Tages an den Restaurants noch sehen sollte, ging der Plan offensichtlich auch auf. Aber nicht mit Commander;)))
Das erste Viertel der Strecke führte noch moderat bergauf. Den Gipfel über Ackerfelder hinweg stehts zur linken im Blick, oder wie heute aufgrund einer dichten Wolkenkappe eben auch nicht. Doch erst einmal nach 4km im städtischen Wald angekommen, ging es richtig zur Sache. Durch dichtes Gehölz schlängelte sich die mit martialischen Schlachtrufen bekritzelte Straße steil, fast durchgehend im zweistelligen Prozentbereich den Berg hinauf. Erst bei Kilometer 12 im Bereich des Bergrestaurants „Chalet Reynard“ pries der Stein am Wegesrand wieder einstellige Steigungszahlen an. Wer jetzt meint die folgenden flacheren 6-7% währen angenehmer geworden, hat sich geschnitten. Das kahle Gipfelareal hat den Charme und Pflanzenbewuchs einer postatomaren Wüstenlandschaft, nämlich gar nix. Grau-weißer Kalkschotter wohin das Auge reicht. Endzeitschinken wie „Mad Max“ oder „Postman“ hätten hier mühelos gedreht werden können. Statt Bäume gesellte sich dafür das kleine Arschloch eines jeden Radfahrer hinzu, nämlich Wind! Vornehmlich von vorne! Starker Gegenwind im Berg…….Geht’s noch??? Im Nähmaschinentakt strampelte ich die letzten 9 Kilometer im Wind den Hang hinauf bis zum Gipfelschild auf 1912 Metern Höhe. Etwas mehr als 2 Stunden Fahrtzeit und 1600 Höhenmeter zeigte mein GARMIN bereits zu einer Uhrzeit an, wo sich andere im Urlaub gerade mal aus der Kiste schälen.
Auf dem Gipfel war um 8:00 Uhr noch tote Hose. Alles verriegelt und verrammelt. Genauso wie um 6:00 Uhr in Bédoin musste ich also auch hier noch auf meinen ersten Stempel ins Heftchen warten. Leider musste mangels Essen auch was anderes warten, nämlich die Wiederauffüllung meiner Kohlenhydratetanks. Da zudem Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt nicht unbedingt zum Verweilen einluden und die Fernsicht so gerade noch einen Blick auf meine Fußspitzen zuließ , gab es nur eins zu tun……Beweisfoto von mir und dem Gipfelschild und ab nach unten ins Warme.
Die 21 Kilometer lange Abfahrt zum westlich vom Berg gelegenen Örtchen Malaucène war nicht nur schweinekalt, sondern auch kurvig und mindestens genauso steil wie die erste Auffahrt. Nicht erwähnenswert, dass ich die gleiche Straße auch wieder retour, also bergauf fahren musste. Um Wiederholungen zu vermeiden, erspare ich mir Einzelheiten zur Westrampe. Man stelle sich einfach den zuvor beschriebenen Anstieg von Bédoin nur ganz ohne Wald und dafür mit einem dicken Hungerast in den Beinen vor. Herrlich!!! So mit Gummibeinen anderthalb Tausend Vertikalmeter zurücklegen ist einfach eine Wonne;) Zumindest konnte ich mir aber vorher im „Office du Tourisme“ in Malaucène meinen ersten Stempel einheimsen.
Beim zweiten Gipfelsturm erhielt ich auch endlich meinen ersehnten Summit-Stempel. Zudem lächelte mich der Schokoladenständer neben der Kasse derart nett an, dass gleich 3 Tafeln MILKA-Nuss-Schokolade den Weg in meinen Magen fanden. Bei 3 Euro die Tafel ein echter Hochgenuss;)
Dritter Zielpunkt des Tages war das Örtchen Sault am Ostende des Mont Ventoux. Die Abfahrt aber auch der anschließende dritte Anstieg von Sault zum windigen Funkturm on the Top entpuppte sich geradezu als Erholungstour. Nicht nur, dass die Kuh-Power von MILKA sich mittlerweile in meinen Beinmuskeln eingefunden hatte, nein auch die „nur“ 1200 Höhenmeter auf 25 Kilometern Strecke ließen das Ganze ein wenig flacher und gemütlicher erscheinen.
Das dritte Gipfelfoto im Kasten hieß es nun die Räder wechseln. Zurück an meinem Startort Bédoin, wo ich endlich auch den frühmorgentlichen Stempel am Rathaus nachholen konnte, wurde der blaue Renner fix ans Auto gekettet und mein Crossrad aus dem Nachmittagsschlaf geweckt. Mittlerweile waren es 17:30 Uhr und vor mir lagen noch 21 km weitestgehend über eine Schotterpiste nach oben. Im Internet war zu lesen, dass manch einer diese Piste auch mit dem Rennrad gefahren ist und man daher nicht zwangsläufig ein Crossrad braucht. Nun gut, nachdem ich auf den Weg einbog und ein paar Kilometer hinter mir hatte, konnte ich dem nur beipflichten. Vorausgesetzt man hat einen gut gefüllte Geldbörse und holt sich danach direkt einen neuen Hobel. Das alte Rad ist nämlich nach Nutzung des „Mont-Ventoux-Waldweges“ ein Fall für die Schrottpresse. Zumindest der Laufradsatz;) Was anfänglich noch tatsächlich wie ein rudimentär mit Asphaltfetzen bestückter Schotter-/Waldweg aussah, entpuppte sich mehr und mehr als kantiger und rutschiger Felsenuntergrund, auf dem kein flüssiges Radfahren mehr möglich war. Das Bachbett eines Gebirgsflusses dürfte nicht unebener gewesen sein. Zwei Stürze und gefühlt tausend Nervenzusammenbrüche später hatte ich sprichwörtlich den Kaffee auf. Erst recht wenn man an eine nicht in der Wegbeschreibung aufgeführten Streckengabelung kommt und prompt den falschen Weg wählt. Mit über 3 Stunden Fahrtzeit war die vierte und letzte Gipfelerstürmung nicht nur die längste, sondern auch die schwerste.
Am Ziel:
Um 20:32 Uhr erreichte ich kurz vor Sonnenuntergang zum vierten Mal die Passhöhe und wurde eisig bei mittlerweile fast wieder 0 Grad empfangen. Die sofortige Abfahrt nach erfolgtem Jubelschrei war demnach obligatorisch.
Gefeiert wurde erst unten!!! Am Auto angekommen taute mein Gehirn wieder auf und mir wurde bewußt, dass ich es geschafft hatte! 6050 Höhenmeter und 190 in 12:55 Stunden:-) :-) :-)
Ich bin ein „Galérien du Mont Ventoux“:-) :-) :-)!!!! Tschaka!!!!!!! Der übrigens weltweit 535. Galérien überhaupt erst.
Die Stempelkarte mit Beweisfotos und GARMIN-Aufzeichnung mittlerweile übersandt, werde ich in den nächsten Tagen offiziell in den Club aufgenommen und erhalte mein Siegerzertifikat. Insgesamt eine spaßige Sache.
Zum Abschluss des Urlaubs fuhr ich noch einmal quer durch Südfrankreich in die Hoch-Pyrenäen nach Lourdes. Keine Angst, ich habe nicht den Weg zum christlichen oder sonstigen Glauben gefunden. Den Pilgerort mit der heiligen Grotte wo irgendwer irgendwem erschienen ist, ließ ich geflissentlich links liegen. Mein Ziel war ein nahegelegenes Heiligtum des Radsports: der berühmte Col du Tourmalet. Den 2115 Meter hohen Gebirgspass, der seit Jahrzehnten auf keiner Tour de France fehlt, erklomm ich über die 18,5 Kilometer lange Ostauffahrt in 1:41 Stunden. Sicher keine Fabelzeit, aber zwei Tage nach dem Mont Ventoux war dies auch nicht zu erwarten.
Eine Rückkehr zu beiden Bergen in den kommenden Jahren ist nicht ausgeschlossen.
Col du Tourmalet