Paris - Roubaix 2019
„Läppische 175km Strecke und keine 1000 Höhenmeter!!!! Klasse, ne ruhige Feldwegtour mit Steigung wie auf der Autobahn zwischen Amsterdam und Den Haag!“ So in etwa waren meine ersten Reaktionen und Einschätzungen zum Radsportklassiker PARIS - ROUBAIX als ich mich vergangenes Jahr zur Amateur Challenge dieses Radsportmonuments einschrieb. Im Nachhinein hätte ich mir vielleicht besser mal Gedanken gemacht, warum dieses prestigeträchtige Rennradrennen charmanterweise auch „Hölle des Nordens“ genannt wird. Wegen des sonnigen und heißen Wetters jedenfalls nicht, soviel sei vorab gesagt. Aber Radsportmonument ist Radsportmonument! Und da ich mir kühner Weise nun mal vorgenommen hatte, alle deren 5 so nach und nach zu meistern, galt es auch für mich als Bergziege, dieses Rennen im tellerflachen französischen Norden zu fahren.
Aber erst einmal zum Anfang: Am Freitag den 12. April ging es zusammen mit meinem Bruder Lars auf nach Roubaix. Da es das ein oder andere „Kopfsteinpflaster“ auf der Strecke geben sollte, gönnte ich meinem fragileren Karbongefährt eine Pause und gab meinem blauen Aluminium-Rennrad den Vorzug. Zum Zielort Roubaix ist eigentlich nicht viel zu sagen. Der Reiseführer für die City mit morbidem Industriecharme dürfte zumindest nicht sehr seitenstark sein;) Dafür dürfte das hiesige Polizeirevier an diesem Wochenende viele Seiten Anzeigen geschrieben haben. Beim Gang zur Startnummernausgabe an der berühmten Radsporthalle wateten wir quasi durch Glasscherben eingeschlagener PKW-Fensterscheiben. Der ein oder andere britische X5- oder A8-Besitzer dürfte sich bei seiner Rückkehr zum Fahrzeug gefreut haben über eine Rückreise nach Hause ohne Heck- oder Seitenscheibe. Wie durch ein Wunder wurde unser verbeulter und vor Dreck stehender Luxus-Dacia nicht angerührt;)
Die Nacht zum Samstag gestaltete sich kurz aber interessant. Die vergilbten, miefenden Wände des Fomule-1-Raucher-Hotelzimmers konnten uns Nichtrauchern Geschichten erzählen. Zudem durfte ich mich in meinen Träumen auf angekündigte, sonnige Minus 1 Grad Celsius am Startort freuen.
Um 05:00 Uhr startete der unerwartet komplikationslose und professionelle Bus- und LKW-Transfer von Roubaix zum 100km entfernten Startort Busigny. Ein großes Lob für diese erstklassige logistische Leistung kann ich mir hier nicht verkneifen.
Um 07:30 Uhr war Schluss mit Lustig und ich tauschte den komfortablen, warmen Bussessel gegen ein schweinekalten Fahrradsattel. Die Veranstalter hatten sich bei der Challenge für Amateure auf das Wesentliche konzentriert und die 80km geteerte Anfahrt vom Profistartort Compiègne zum ersten Pavé (Kopfsteinpflasterpassage) einfach mal weggelassen. Das verkürzt die zu fahrende Strecke zwar auf nur 175 statt 255km, jedoch wurde keines der insgesamt 29 zu fahrenden Pavés dabei ausgelassen. Im Gegenteil, ohne richtig eingefahren zu sein startete der erste dieser zwischen ein bis knapp vier Kilometer langen Abschnitte schon nach wenigen Kilometern. Nach Bravo!
Schon das erste Pavé brachte jeden Bestzeitträumer brachial zurück auf den Boden der Tatsachen. Ruhige Feldwegrunde im Ü30er Schnitt? Das ich nicht lache! Kopfsteinpflaster??? Eine lächerliche Untertreibung! Jeder der schon ein wenig in Flandern unterwegs war und meint Erfahrung damit zu habe, kann seine vermeintliche „Erfahrung“ mit dem Belag mal getrost auf den Müll kippen. Das gleiche haben hier offensichtlich auch die Straßenbauer getan: ihren Müll vom Straßenbau einfach in die Felder gekippt. Den hingeworfenen und dann grob sortierten Haufen Steine hier konnte man als alles bezeichnen, nur nicht als ordentliches Kopfsteinpflaster. :-( Mein Rennrad und ich wurden durchgeschüttelt als wäre ich mit nem Hardtail downhill irgendwo in den Alpen unterwegs. Schon nach Pave´ Nr. 4 schmerzten mir Fingergelenke, Hände, Unterarme, Nacken, Kopf quasi alles oberhalb der Gürtellinie, als wäre ich mit dem Truck kollidiert. Ich wußte vorab gar nicht, was einem am Körper so alles weh tun kann. Auch ne Erfahrung;) Manche Rennradfahrer wichen teilweise auf die Linderung versprechenden schmalen Dreck- und Schotterstreifen rechts und links am Wegesrand aus. Streifen auf die nie ein Rennradfahrer sein Gefährt eigentlich hinsteuern würde. Aber “In der Not…..Bla Bla Bla“ heißt es in einem Sprichwort ja so schön;) Da die Dinger aber offensichtlich mit zahlreichen spitzen Steinen bestens ausgestattet waren, fielen die Weicheier reihenweise Pannen zum Opfer. Was also Tun? Genau, schön drauf bleiben auf den mittelalterlichen Autobahnen. Da ist zwar der Bandscheibenvorfall vorprogrammiert, aber zumindest bleibt das Rad ganz.
Zwischendrin stellte man sich echt die Frage, welch finsteren Albtraum der Erfinder des Radrennens 1896 gehabt haben muss, um fragile Rennräder über solche Strecken zu schicken. Und was für Idioten wir Starter sein müssen, sich wie kleine Lemminge auch noch freiwillig auf ein solches Rennen zu stürzen. Die beginnende Sinnkrise nicht genug, wurden wir quasi vom Veranstalter auch noch verarscht. Schilder wie „One Kilometer can be very long!“, „Smile, it’s just cycling!“ oder „Stone after Stone“ statt „Step after Step“ trugen bei mir zumindest nicht zur Erheiterung sondern eher zum spontanen Kammschwellen bei. Zum Glück und auch wohlweislich lies sich keiner von den Organisatoren am Ende irgendeines Pavés sehen. Das wäre ihm sicher nicht gut bekommen.
Die zum Ziel abwärts nummerierten 29 Pavés auf der Strecke wurden in Kategorien mit bis zu 5 Sternen nach ihrer Schwierigkeit und Länge bewertet. Während ** und ***-Sterne-Strecken noch ansatzweise wie befahrbare Wege oder zumindest etwas ähnlichem wie das aussahen, lösten die 4er und 5er-Strecken nur noch Kopfschütteln oder Kotzreize aus, je nachdem wir weit man mit seiner Gehirnerschütterung schon war. Von den 5-Sterne-Trümmerfeldern gab es ganze drei Stück bis Roubaix. Der bekannteste Abschnitt Pavé Nr. 19 hat den unscheinbaren wie harmlosen Namen „Arenberger Wald“. Um ehrlich zu sein, von dem Wald habe ich bei der Fahrt nichts mitbekommen. Eine unvorstellbar grauenvolle Piste lies mich nur Hoffen und Bangen, dass mein Fahrrad nicht unter mir zerbricht oder ich nicht mit Schütteltrauma im nächsten Hospital lande. 2,4 Kilometer Wahnsinn, dem man sich nicht entziehen konnte. Die sadistischen Organisatoren schmückten die Strecke nämlich rechts mit Gattern und link der Grünstreifen wurde von vermutlich gerade mal wieder streikenden Landwirten einfach umgepflügt. Man hat ja sonst nichts zu tun.
Der ganze 5-Sterne-Irrsinn wiederholte sich bei Pavé Nr. 11 (Mons-en- Pévèle / 3km Länge) und Nr. 4 (Carrefour de l’Arbre/ 2,1km Länge) noch ganze zweimal. Zwischendurch war die Strecke noch mit mehreren Abschnitten der Kategorie 3 und 4 garniert. Es wurde jedenfalls nicht langweilig. Dafür sorgten alleine die „rücksichtsvollen“ Mountainbiker, die mit ihren vollgefederten Sofasesseln auf Rädern die leidende Rennradschar mal rechts mal links mit Vollgas überholten, ausbremsten oder schnitten. Einfach „nette“ Gesellen, die irgendwie den Sinn des RENNRADrennens nicht verstanden hatten.
Nach der ganzen Lästerei sollte man aber auch mit Lob nicht geizen. Das Rennen ist bestens organisiert. Man mag ja über die Schaffenskraft französischer Architekten und Planer geteilter Meinung sein. Da werden ja schon mal Schlösser ohne Toilette (Versailles) oder Schlachten ohne Plan (Waterloo) gebaut bzw. geschlagen. Aber DAS Event hier hat von vorne bis hinten Hand und Fuß. Die Strecke gut ausgeschildert, die Pavés mit allen Infos beschildert, verpflegungstechnisch Haute Cuisine, 1a Fotoservice und die bereits schon erwähnte reibungslose Logistik. Tres bien!!! Zudem wurde für das eigentlich bedeutungslose Amateurrennen mal eben der Verkehr einer ganzen Region (Departement) lahmgelegt. Rote Ampeln, Stopps an stark befahrenen Kreuzungen und sonstige lästige Verkehrsregeln konnten wir mal getrost in Deutschland lassen. Hier wurde für jedes noch so seelenruhig dahinradelnde Rennrad mit Polizei und freiwilligen Helfern eine ganze Bundesstraße einfach mal dicht gemacht, wenn diese zufällig im Weg stand. „Vive La France!!!!“ kann ich da nur sagen.
Wie dem auch sei, nach 7:30 Stunden Nettofahrtzeit über 55 Kilometer Kopfsteinpflaster und 120km Asphalt zwischendurch erreichte ich auf allen Vieren das berühmte Velodrom in Roubaix, in dem noch eine halbe Runde bis zum Zielstrich zu fahren war. Mein viertes Monument nach Flandern-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Mailand-Sanremo ist gemeistert. Nummer 5 wird wohl noch ne Weile dauern. Dafür müssen die Lombarden erst mal auf die Idee kommen, auch für ihre Rundfahrt im Oktober ein Langstreckenevent für Amateure anzubieten. Für ne 110er RTF, wie aktuell, fahre ich jedenfalls nicht nach Mailand. Aber die Itaker sind ja in allem immer ein bißchen langsamer als der Rest der Welt. Als mein Résumé für die Hölle des Nordens möchte ich mich gerne eines nur leicht abgewandelten Zitats des Radsportler Theo de Rooij aus den 90ern bedienen: „Paris Roubaix ist ein Haufen Scheiße! Es ist eines der wundervollsten Rennen der Welt!“ Allem Streckenhorror zum Trotze ist es einfach ein tolles Rennen, welches ich jederzeit wieder fahren würde. Zumindest im Trockenen. Bei Nässe würden mich keine 10 Pferde auf die Pisten bekommen;) Bis dahin……..Bleib dran!!!
Dirk Gütte Erkelenz, den 20.04.2019