La Primavera oder besser bekannt unter dem Namen Mailand-Sanremo ist eigentlich kein Event für Alpenritter und Bergziegen. Die Strecke ist zwar mit 295km die längste, die den Profiradsportlern in einem Tagesrennen weltweit zugemutet wird, aber knapp 1800 Höhenmeter sind nun wahrlich keine angsteinflößenden Vertikalwerte. Stellt sich die Frage……..Was will ICH hier? Nun, ja erstmal liegt das Ding zufällig auf dem Weg in den Urlaub gen Süditalien und zweitens zählt es zu den fünf Monumenten des Radsports, von denen ich mit der Ronde de Flanderen und Lüttich-Bastogne-Lüttich zwei schon intus habe. Also antreten und abhaken das Ding!
Am 10. Juni 2018 um 7:00 Uhr war der Rennstart angesagt. Jedoch nicht wie die Profis im mondänen Milano am Dom, nee die Amateure durften das Rennen in einem häßlichen Vorort mit Namen „Pieve irgendwas“ beginnen. Der Plattenbauort ist so häßlich, dass man die ersten Kilometer geneigt war, Vollgas zu geben aus Angst um sein Rad. Startpunkt war ein riesen Betonklotz von Hotel, was laut Tripadvisor mal 5 Sterne besessen haben soll………..Muss wohl vermutlich zu Mussolinis Zeiten gewesen sein oder noch früher. Jetzt versprühte das Ding nur noch einen Charme à la Berlin-Marzahn oder Köln-Chorweiler.
Wie dem auch sei, um 7:00 Uhr ging der erste Startblock, zu dem ich mit der Startnummer 106 gehörte, auf die Reise. Die 5-6 weiteren Startblöcke sollten im Abstand von 10 Minuten folgen. Insgesamt waren circa 800 Starter bereit, die lange Tortour auf sich zu nehmen.
Nach dem Startschuß setzte sich der Block in Bewegung. Geschlossen, in Tempi jenseits der 40 km/h. Ja sind die denn alle wahnsinnig hier? Da es keine Alternative gab, außer zurückfallen lassen und alleine im Wind strampeln, hieß es klein machen und im Peloton irgendwie mitschwimmen.
Offiziell in der Anmeldung hieß es, das Rennen ist ein normaler Radmarathon und die Verkehrsregeln seien jederzeit einzuhalten. So die Theorie! Was Italiener von Verkehrsregeln halten weiß wohl jedes Kind. Und so verhielt es sich auch mit dem Rennverlauf. Eine Horde wild strampelnder Möchtegern Pantanis, Coppis und Bartalis nahm in 5er und 6er Reihen nebeneinander die kompletten Landstraßen in Beschlag. Vorneweg ein Motorrad, welches Autos, die sich doch tatsächlich erdreisteten uns entgegenzukommen, in die Böschungen oder Straßengräben verwiesen.
So wäre ein flottes Vorankommen mit Schnitten an der Spitze nahe und über der 40 km/h mit Sicherheit drin gewesen, wären da nicht die Straßenverhältnisse gewesen. Katastrophe sag ich nur!!! Hätte ich nicht gewußt, dass wir durch die drittwichtigste Industrienation der EU fahren, hätte ich den Straße nach zu urteilen auch genauso gut in Guatemala oder Laos unterwegs gewesen sein können. Fußballgroße Schlaglöcher oder halbe St.Andreasgräben zierten die Landstraßen an allen Ecken und Enden. In zwei Kratern wäre ich beinah mit über 40 km/h verschwunden. Die kommunalen Bauhöfe scheinen hier offenbar im Dauerurlaub gewesen zu sein.
Landschaftlich gab es rein gar nichts zu sehen. In der tellerflachen Po-Ebene reihte sich ein nichtssagender Ort an den anderen.
Was es auch nicht zu sehen gab waren Verpflegungsstationen. Mit vollen Rückentaschen und zwei Getränkeflaschen gestartet, ging bei Kilometer 80 mein Getränkevorrat zur Neige. Bei Kilometer 100 folgten meine Energiegels. Ab da fuhr ich Vollgas nur noch mit heißer Luft in den Beinen. Verpflegungsstation???? Fehlanzeige! Kleiner Hinweis zur gefahrenen Geschwindigkeit: KM-Punkt 100 passierte ich in einer Zeit von 2:50h, was meine zweitbeste 100-KM-Zeit überhaupt und einen circa 36er/37er Schnitt darstellte. Diesen Tanz auf der Rasierklinge stand ich noch ganze 28 Kilometer durch. Dann musste ich total entkräftet das Peloton des ersten Startblocks ziehen lassen. Bei sage und Schreibe Kilometerpunkt 130 (!!!) kam dann doch tatsächlich die nicht mehr für möglich gehaltene Verpflegungsstation. Haben die Itaker eigentlich noch alle Latten am Zaun? Bei Kilometer 130 den ersten Verpflegungspunkt? Warum nicht gleich den ins Ziel verlegen? Wer braucht unterwegs schon was zu essen und bei 30 Grad was zu trinken;)
Ich schaufelte mich durch das ansprechende Buffet und trank direkt ne ganze Pulle Wasser und 4 Gläser Cola, um wieder einigermaßen klar denken zu können. Was natürlich prompt fehlte waren Speisen, die man für die kommenden Kilometer in die Rückentaschen packen konnte. Kuchenstücke, klebriges Gebäck, geschnittenes Obst oder offene, fettige Wurst hätte ich nach dem Rennen niemals mehr aus meinem edlen ERC-Zwirn gekratzt bekommen. So blieb trockenes Brot als einzige Alternative übrig. Prost Mahlzeit!
Die folgenden 165 Kilometer waren nur noch anstrengend, anstrengend, anstrengend!!! Dem ersten Verpflegungspunkt folgte ein dicker Hungerast und elektrolytemangel bedingte Muskelkrämpfe in den Beinen. Was ein „Glück“, dass es nun auch noch bergauf ging. Die 500 Höhenmeter am Stück über einen namenlosen Puckel nahe Genua kamen mir vor wie das Stilfser Joch. Stützräder wären jetzt hilfreich gewesen, da unter 9 km/h das Gleichgewicht halten auf dem Fahrrad anfing schwer zu werden. Irgendwie schaffte ich es aber über den Hügel und befand mich endlich nach 150 Kilometern am Meer. Naja, wer nun Paradiesstrände im Kopf hat, hat die Vororte von Genua noch nicht gesehen. Am besten blendete man auf den ersten 5-10 Kilometern an der Küste den Stadtschrott einfach aus und konzentrierte sich auf den Horizont auf See. Das verbesserte die Laune.
Endlich aus dem Moloch Genua heraus, wurde es dann aber endlich schön an der Küste. Die Straße hielt sich nun bis auf zwei Abstecher kurz vor dem Ziel beständig immer an der Küste entlang. Der ständige Blick aufs Meer hielt mich am Leben. Meine Beine waren eigentlich schon im Nirvana. Bis zum Ziel mit kurzen Wohlfühl-Intermezzi kam die Power irgendwie nicht zurück. Durchhalteparolen trällern und Kilometer bis nach Sanremo zählen waren neben Pedale treten meine Hauptbeschäftigung die folgenden Stunden. An jedem verfluchten Küstenort, von denen es reichlich gab, sankt die Straße immer wieder bis auf Meeresniveau herab nur um danach wieder an einem Kap vorbei nach oben zu steigen. Wir reden hier aber nicht von tibetischen Verhältnissen, sondern teilweise läppischen 40-60 Höhenmetern. Doch selbst die waren mittlerweile zu Bergriesen für mich geworden.
Besonders in Erinnerung blieb der drittletzte „Berg“ bei km 270: das „Capo Berta“! Eigentlich niedliche 128 Höhenmeter hinauf zur dicken Berta entwickelten sich zu einem echten Brocken, der mir im Wiegetritt alles abverlangte. Mein Fahrverhalten, insbesondere das Spurhalten, glich dort mittlerweile einem 3-Promille-Autofahrer und flotte Spaziergänger hätten locker mit mir Schritt halten können. Am Gipfel des Kaps war dann auch die letzte Verpflegungsstelle positioniert. Da mir aber Kuchen, Obst und Wurst mittlerweile derart zum Hals raushingen und die nötigen Kohlenhydrate 10km weiter am nächsten Anstieg eh noch nicht da angekommen wären wo sie hingehörten, sparte ich mir die Station und fuhr direkt weiter zum nächsten Hügelchen.
„Cipressa“, mit 226 Höhenmeter auf 5km die größte Rampe an der Küste, ließ nicht lange auf sich warten. Bei Kilometer 280 war man quasi schon oben. Interessanterweise ließ sich das Ding entgegen meiner schlimmsten Erwartung wieder in konstantem Tempo mehr oder weniger leicht raufradeln. Der befürchtete Alptraum eines jeden Bergfahrers „ABSTEIGEN & SCHIEBEN“ blieb mir also erspart.
Den berühmten „Poggio“ mit seinen 137 Höhenmetern kurz vor dem Ziel konnte ich sogar wieder in flottem Tempo mitnehmen. Entweder war es die Zielluft oder die unzähligen Namen von Radlegenden auf dem Asphalt, die mich alle Qualen vergessen ließen und den Anstieg nach oben trieben. War mir ehrlich gesagt auch schnuppe, Hauptsache oben! Vom Gipfel 5km vor dem Ziel ging es nur noch bergab in das potthäßliche Seebad Sanremo. Die goldenen Zeiten der Stadt, so es sie denn je gegeben hat, müssen auch hier ähnlich dem Startort Dekaden zurückliegen. Also nix wie Vollgas durch die verbaute und rostende Innenstadt die letzten Meter ins Ziel. Nach 10:23 Stunden Netto (10:47h Brutto) Fahrtzeit erreichte ich mit 295 Kilometer in den Knochen das Ziel in Sanremo Downtown. Machte trotz 165km-Spazierfahrt am Ende noch nen passablen 28,3er Schnitt.
Mit der Medaille im Gepäck wurde ich von meiner nachgereisten Familie gebührend empfangenJ Unser gebuchtes Hotel vor Ort entpuppte sich übrigens genau wie die Stadt als Drecksloch. Wir haben daher eine Übernachtung in der Guesthouse-Ruine dankend abgelehnt und sind noch am selben Abend gut 300 Kilometer weiter bis nach Pisa gebrettert. Von Erholung nach dem Rennen konnte also nicht die Rede sein.
Zusammenfassend ist Mailand-Sanremo ein tolles Rennen für Sprintasse und Speedjunkies mit randvollen gefüllten Rückentaschen und 5 Litern Flüssigkeit irgendwo am Rad. Ohne das ist der Hungerast oder Kreislaufkollaps praktisch vorprogrammiert, wenn man wie ich auf eine handelsübliche Verpflegung bei einem Radmarathon gehofft hat. Die Strecke ist die erste Hälfte totlangweilig und übel, dafür auf der zweiten Hälfte ein Traum, oder wo kann man sonst beim Radfahren 150km lang aufs Meer schauen??? Ich kann das Rennen empfehlen, werde mich aber nun wieder den Bergen widmen und eventuell nächstes Jahr mein viertes Monument PARIS-ROUBAIX in Angriff nehmen;)
Bis dahin……Bleib dran!!!
Dirk Gütte Neapel, den 15.06.2018